Ein kurzer Auszug aus dem Roman

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Ich zuckte zusammen und fuhr im gleichen Moment herum. Sarah stand hinter mir. Sie trug wieder ihren bunt beklecksten Kittel, in dem sie mich am Vortag an der Tür begrüßt hatte.
Wo kommst du, um Gottes Willen, so plötzlich her? stotterte ich erschrocken.
Ich kann es dir zeigen. Aber du musst es für dich behalten. Nur Louisa weiß davon. Sonst niemand.
Sie drückte gegen die gekachelte Wand neben sich und öffnete einen Durchgang von der Größe einer schmalen, niedrigen Tür. Die Kacheln waren so geschickt auf die Tür geklebt worden, dass man, wenn die Tür geschlossen war, die Öffnung nicht erkennen konnte. Ich trat in einen kleinen Raum. Ein altes Fenster ging auf den Innenhof eines Nachbarhauses. Die Wände waren mit bräunlichen Zeitungen tapeziert, alte Nazizeitungen, wie Sarah sagte. Eine Glühbirne hing an einem stoffummantelten Kabel von der sehr hohen Decke herab. Auf einer Staffelei stand ein großformatiges Gemälde. Tuben mit Ölfarben, Dosen und Flaschen mit anderen Farben, Pinsel und verschiedene Messer lagen auf einem Stuhl. Andere Bilder standen auf dem dunklen Holzfußboden an den Wänden. Es roch nach Farben, Terpentin und Nikotin.
Hier malte Sarah. Daher also der fleckige Kittel.
Sie drückte die Tür von innen zu und schob eine Wand davor.
Damit uns niemand hört. Es ist absolut dicht. Kein Geräusch, kein Geruch dringt durch. Ich habe diesen Raum entdeckt, als ich acht oder neun Jahre alt war. Ich wusste schon damals, wann meine Eltern sich sehen lassen und wann nicht. Das hier ist meine Welt.

Sarah hatte an manchen Stellen schon zehn oder sogar mehr Farbschichten aufgetragen und sie teilweise wieder beseitigt.

Ich sah mir das Bild von der Seite an und erkannte Täler und Hügel in der Farbe.

Jetzt konnte ich nicht mehr an mich halten: Sarah, dein Bild hier. Was ist das? Erklär es mir doch bitte.
Sie steckte sich eine neue Zigarette an und lehnte sich gegenüber von dem Bild an die Wand. Ich habe versucht, mir eine Vorstellung, ein Bild davon zu machen, was das Unbewusste ist, erklärte sie.
Ich lehnte mich neben sie an die Wand, und beide betrachteten wir das Bild.
So wie die Sprache das Bewusste vermittelt, fuhr Sarah fort, muss auch das Unbewusste seine Sprache haben. Ich stelle es mir als eine nicht abreißende Folge von Bildern vor. Wie die einzelnen Bilder auf einer Filmrolle, die sich langsam oder schnell verändern. Nur dass im Unbewussten unzählige Filme gleichzeitig ablaufen. Wie du siehst, verändert sich das Bild ständig. Leider muss ich deshalb oft die alten Motive abkratzen. Eigentlich würde ich sie viel lieber so übermalen, dass von den vorangegangenen etwas bleibt.
Mir gefällt es sehr gut, sagte ich. So entsteht nämlich eine Struktur, die Struktur des Unbewussten, könnte man vielleicht sagen.
Sie lächelte und strich wieder über mein Haar.

Ich weinte leise vor mich hin, bis Sarah an meine Tür klopfte. Sie trug ein großes, flaches Paket in der Hand, umarmte mich lange und ließ sich später die kurze Geschichte von Frau Gaviota erzählen, während wir beide auf meinem Bett saßen.
Dieses Paket sollst Du mitnehmen. Mit nach Hause, Win, und dort erst öffnen. Papa sagt, dass Du wahrscheinlich schon morgen fliegst. Ich habe gleich Mama angerufen. Sie kommt früher, damit ihr noch ein bisschen Zeit füreinander habt. Louisa soll ein Abschiedsessen bereiten, hat Mama gesagt.
Hat sie angeordnet, korrigierte ich lächelnd, immer noch mit Tränen in den Augen. Ich nahm das Paket und befühlte es. Es war ein Bild.
Es ist „Das Unbewusste“, Win.
Hast Du es abgeschlossen, Sarah. Kann es denn je fertig werden?
Ich habe mir gedacht, sagte Sarah, dass alles um uns herum unfertig ist und sich ständig verändert. Die Veränderungen geschehen aber oft so langsam, dass wir sie kaum bemerken. „Das Unbewusste“ ist nie fertig, wird wohl niemals fertig sein. Nur, die Veränderung ist kaum wahr zu nehmen.
Ich bedankte mich und fragte, woran sie jetzt arbeite.
An der Hoffnung, antwortete sie mit ernstem Gesicht und mir schossen wieder die Tränen in die Augen.
Die Hoffnung, weißt Du, Win, ist etwas, was da ist, und trotzdem haben wir Schwierigkeiten, sie zu sehen. Im Augenblick stelle ich sie mir gläsern vor. Eine dünne, zerbrechliche Eisscholle, die gegen das Licht gehalten in den aufregendsten Farben leuchtet und gleichzeitig von der Wärme des Lichts zerschmolzen wird.
Wenn ich wieder mal nach Hamburg komme, Sarah, dann werde ich mir „Die Hoffnung“ ansehen. Ich bin sehr gespannt darauf.


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